Rede von Thomas Giesinger zur Vernissage der 1. Ausstellung von Annette Weiffenbach Katzen - Mäuse - Sensationen in Konstanz, K 9, a, 25. Juli 1999. Es ist mir eine Freude und eine Ehre, mit Ihnen gemeinsam diese erste Ausstellung von Annette Weiffenbach zu eröffnen. Sie trägt den Titel "Katzen - Mäuse - Sensationen, oder: Der Mann, der nie aufs Bild kam". Die Künstlerin Annette Weiffenbach widmet die Ausstellung ihren drei verstorbenen Katzen: Mikesch - er wurde 11 Jahre alt, Jupp - er wurde 8 Jahre alt und Luzi - sie wurde leider nur 7 Monate alt. Was diese Katzen mit Annettes Werk zu tun haben - darauf kommen wir später noch. Zunächst ein paar Worte zur Künstlerin selbst: Annette Weiffenbach wurde 1969 in Konstanz geboren und ist in Oberuhldingen am Bodensee-Nordufer aufgewachsen. Seit Beginn ihres Psychologie-Studiums, das sie 1998 mit dem Diplom abgeschlossen hat, lebt sie in Konstanz. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, daß der Unterhaltungswert eines Psychologie-Studiums beschränkt ist. Wichtig und beglückend war für Annette daher in den vergangenen Jahren das Erlernen mehrerer Musikinstrumente aus der Familie der Flöten. Sie setzt diese Instrumente in der von ihr mitgegründeten Musikgruppe Jigsaw ein. Diese Band spielt bei zahlreichen Gelegenheiten in und um Konstanz. Ihr Repertoire umfaßt Tanzmusik aus 12 europäischen und mindestens zwei außereuropäischen Ländern. Einen großen Teil ihres heutigen Freundeskreises, der wie ich weiß, eine zentrale Rolle in ihrem Leben spielt, hat Annette über die Musik kennengelernt. Daß Menschen, die Musik machen, auch Bilder malen oder zeichnen, ist nicht selten. Annette setzt die Tradition von John Lennon oder Cat Stevens fort, um nur zwei von vielen zu nennen. Überraschend ist, daß Annette erst im März diesen Jahres ihr bildnerisches Schaffen begonnen hat. An den Kunstunterricht in der Schule hat sie nach eigener Aussage nur alptraumartige Erinnerungen. Ich habe Annette gefragt, wie es dazu kam, daß sie zu malen begonnen hat und hoffte natürlich auf eine spannende Geschichte mit so etwas wie einem religiösen Erweckungserlebnis. Aber die künstlerische Inspiration schlug bei Annette nicht wie ein Blitz ein, sondern kam eher geräuschlos und unspektakulär. Einen entscheidenden Impuls gab es aber doch. Annette zeichnete schon seit einiger Zeit nebenbei beim Telefonieren kleine Figuren auf Papierfetzen. Eines Tages kam Annettes kluge und ideenreiche Mutter zu Besuch und sah diese Figuren. Auf den ersten Blick erkannte sie das künstlerische Potential, das in den spontanen kleinen Kritzeleien steckte. "Mal das doch mal auf Seide," riet sie ihrer Tochter - und was daraus geworden ist, können wir uns heute anschauen. In Zukunft wird die Künstlerin ihre Bilder auch auf Haushaltsgegenstände malen - ein Beispiel dafür ist der Regenschirm. Das macht ihre Motive noch origineller und zwingt den Eigentümer oder die Eigentümerin des bemalten Gegenstands dazu, sie dort zu platzieren, wo sie hingehören: In unseren Alltag. Machen Sie jetzt mit mir einen Gang durch die Bilderwelt von Anette Weiffenbachs Tüchern. Entscheidendes Merkmal in ihrem Werk ist das recht willkürliche, höchstens assoziative Aneinandersetzen von Dingen. Wer versuchen will, hinter den einzelnen Motiven, die sie verwendet oder hinter der Kombination dieser Motive einen tieferen Sinn zu finden, darf das gerne tun. Wie ich sie kenne wird Annette Versuche dieser Art mit ebensoviel Interesse wie Heiterkeit mitverfolgen. Ihr selbst ist jedenfalls in aller Regel kein tieferer Sinn bewußt. Annette malt entweder das, wozu sie grad Lust hat oder das, was sie gerade hört. Mit diesem Hören sind aber nicht übersinnliche Stimmen gemeint, oder die innere Stimme des Gewissens, sondern das Hören im wahrsten Sinne des Wortes. Annette berichtet zum Beispiel, daß die bunte Unsinnigkeit der Fernsehsendungen sie zu immer neuen Assoziationen animiert. Eine ganze Reihe ihrer Werke sind beim Fernsehen entstanden. So taucht das Portrait von Monica Lewinsky mehrmals auf den Bildern auf. Die Präsidenten-Erregerin war ja im Frühsommer dauernd in den Nachrichten. Der historischen Annette-Weiffenbach- Forschung in 100 und mehr Jahren wird die Wahl solcher Motive übrigens Rückschlüsse auf die Entstehungszeit der Werke erlauben. Gesprächsfetzen beim Telefonieren sind - wie erwähnt - eine weitere Ideenquelle. Es kann aber auch sein, so die Künstlerin, daß beim Kaffeetrinken spontan der Gedanke auftaucht: "Wie würde wohl eine Kuh aussehen, die Kaffee trinkt ? Würde sie überhaupt Kaffee trinken - oder eher Milch ?" Annettes Tücher laden zum miterlebenden Betrachten ein. Einige Motive wiederholen sich dabei, sympathische Tiere sind besonders häufig. Es ist eine uralte Technik, einem Tier die Züge oder Charakterzüge eines bestimmten Menschentyps zu geben. Wir finden diese Technik zum Beispiel in den klassischen Fabeln. Annette nennt diese Technik "Tiere in menschlichen Situationen" und demonstriert sie beim Katzenbild auf besonders spannende Art. Zu Anettes Alltag gehören Katzen seit Jahren. Katzenfreunde wissen, wie sehr die kleinen Erlebnisse mit diesen Tieren - oder auch nur ihr bloßes Schnurren neben dem warmen Ofen, wenn es draußen kalt ist, das Leben bereichern können. Annette denkt aber auch an die Menschen, die eher Hunde und Mäuse oder die sich Kühe halten, wenn ihre Wohnung es ihnen erlaubt. Wieder andere beobachten die Frösche im Grünen - die malt Annette auch. Häufig auch in Annettes Bildern Motive der Fernsehserie Raumschiff Enterprise. Die Titelhelden der Serie und auch das Raumschiff selbst sind originell, markant und jedes Kind kennt sie. Es ist naheliegend, sie als irritierenden Blickfang mit einzubauen. Raumschiff Enterprise ist ja im Grunde ein modernes Märchen. Annette verwendet aber auch ältere märchenhafte Motive. Der bärtige Tarzan und und die geheimnisvoll verdeckte Jane sind ein Beispiel dafür oder hier drei der Sieben Zwerge - mehr hätten nicht mehr aufs Bild gepaßt. Auch aus der Bibel nimmt die Künstlerin eher die märchenhaften, legendenhaften Motive. Märchenhaft sind ihre bildhaften Episoden, mit denen sie die Schöpfungsgeschichte erzählt. Märchenhaft ihre harfenden Engel und die gelegentlichen Figuren mit Heiligenscheinen. Noch einer gehört in diese Welt der Fantasie: Es ist der Mann, der nie aufs Bild kam. Nur seine ausgestreckte Hand hat Platz. Wen meint Annette wohl damit ? Sie läßt zwar offen, ob es die Hand eines Ertrinkenden ist oder die eines Winkenden. Das bunte Umfeld läßt aber vermuten, daß "er" eher ein fröhlicher Zeitgenosse ist. Es bleibt unserer Fantasie überlassen, seine Gestalt fantsievoll zu ergänzen, ihn uns sozusagen auszumalen. Natürlich dürfen Musikmotive auf Anettes Tüchern nicht fehlen. Wir finden Notenfetzen, Instrumente und Musiker. Und immer wieder Motive, die vermuten lassen, daß sie aus dem Fernsehen stammen: EDV 2000 zum Beispiel oder die lustige DDR-Ampel. Der Stil ihrer Werke erinnert mich an die plakativen Wandteppiche und Wandbilder aus den südamerikanischen Anden oder aus China, einzelne Motive auch an die Gemälde australischer Aboriginees und an die naive Malerei aus Europa. Entwürfe der Gesamtbilder macht Annette nie und nur wenige Einzelfiguren existierten schon vorher auf Papier. Die meisten Motive entstehen unmittelbar beim Malen auf das Seidentuch, einige wenige Motive kreisten schon vorher in ihrer Fantasie. Noch ein Satz zum Oben und Unten bei Anettes Bildern. Bei der Seidenmalerei wird ein Tuch in einen Rahmen gespannt. Tuch und Rahmen legt Annete auf den Boden und bemalt sie. Damit die Farben nicht verschmiert werden, muß man innen beginnen und dann Feld für Feld nach außen malen. Dabei bewegt Anette mehrfach den Rahmen und das Tuch. Sie wechselt die Seiten - und damit die Perspektive. So entstehen Bilder, bei denen das Oben und Unten viermal wechselt, manchmal sogar noch öfter. Die Entscheidung, was beim Gesamtbild oben oder unten ist, trifft sie erst, wenn das Werk fertig ist, ganz nach Gefühl. Für künftige Ausstellungen erlaube ich mir die Anregung zu geben, die Tücher auf drehbare Gestelle zu montieren damit die Betrachter selbst die Perspektive wählen und wechseln können. Meine Damen und Herren, wie erwähnt will die Künstlerin keinen tieferen Sinn hinter ihre Werke legen. Wirkung, die über die bloße Unterhaltung hinaus geht, erzeugt Annette dennoch. Das Wort "Sensation" im Titel der Ausstellung ist sehr gut getroffen. Es hat laut Lexikon zwei Bedeutungen: Einerseits heißt Sensation "Aufsehen erregendes Ereignis", andererseits Gefühlsempfindung. Annettes Bilder lassen uns alles andere als kalt (Stichwort Gefühlsempfindung) und sie erregen im wahrsten Sinne des Wortes Aufsehen. Sie selbst verwendet für ihre Werke das treffende Wort "Erlebnistücher". Wo Anettes Bilder hängen, ereignet sich etwas - sowohl in uns, als auch zwischen uns. Man kann ihre Tücher nicht einfach als schöne, aber nichtssagende Lückenfüller an eine leere Wand hängen. Stellen Sie sich einen Sitzungssaal vor, in dem eines von Annettes Tüchern hängt. Angesichts des Bildes werden die Sitzungsteilnehmer der Tagesordnung mindestens in der ersten halben Stunde kaum Aufmerksamkeit schenken. Auch wenn die Künstlerin selbst keinen tieferen Sinn hinter ihre Werke legen will - es sei die Frage erlaubt, ob Annettes Werke tatsächlich bloßer unterhaltsamer Nonsense sind ? Spiegeln die ziemlich willkürlich aneinandergeheihten Einzelbilder nicht doch irgenwelche Entwicklungen oder Zustände unserer Gesellschaft wieder. Erlauben Sie mir zur Beantwortung dieser Frage einen Ausflug in die zeitgenössische Soziologie... Unsere Zeit des ausgehenden 20. Jahrhunderts nennen die Soziologinnen und Soziologen Post-post-Moderne. Der Begriff will sagen, daß die Epoche der Kritik moderner Entwicklungen, wie sie für die Post-Moderne der 70er und frühen 80er Jahre typisch war, eben auch schon wieder vorbei ist. Aber was jetzt ? Das charakterisierende Merkmal der meisten von uns post-post-modernen Menschen von heute, so sagen die Soziologinnen und Soziologen, ist es, daß wir nicht mehr den Lebensstil "aus einem Guß" pflegen. (Jetzt kommt ein langer Satz) Die eine Ideologie, die eine Religion, den einen Lebenssinn, der sich wie ein roter Faden durch das Leben zieht und von dem alle Lebensentscheidungen ausgehen sollen, dieses Leben aus einem Guß - oder zumindest den Anspruch, so zu leben - gibt es bei den typischen Menschen der Post-post-Moderne nicht mehr. Statt dessen - und jetzt sind wir ganz nah bei Annettes Werk - statt dessen setzt sich das Leben der Post-post-modernen Menschen aus vielen unterschiedlichen, manchmal sogar gegensätzlichen Details zusammen. Die meisten Menschen heute finden, schaffen oder erhoffen sich Glück und Lebenssinn in mehr oder weniger bunten, ziemlich willkürlich nebeneinander stehenden Erlebnissen, Ereignissen, sozialen Kontakten und Geschichten. Die Soziologie hat dafür natürlich auch einen neuen Begriff: Einer Wissenschaftssendung im Rundfunk habe ich entnommen, daß man heute in der Soziologie tatsächlich vom Patchwork-Lebensstil und von der Patchwork-Identität spricht. Am Rande bemerkt: Es ist vielleicht bezeichnend, daß es dafür keinen deutschen Begriff gibt - offenbar hatte unsere Kultur besonders lange und besonders stark den Anspruch, daß alles aus einem Guß zu sein hat - egal ob es der christliche oder der humanistische, der sozialistische oder der anthroposophische oder von mir aus auch der ökologische - Guß war. Das Leben als Patchwork hat ohne Zweifel seine Reize, aber den meisten von uns fehlt nach meiner Einschätzung noch die Übung. Deshalb lauern den post-post-modernen Menschen drei Gefahren: Die größte und häufigste ist Verwirrung und Orientierungslosigkeit. Der Abschied vom roten Faden fällt einfach vielen schwer. Die zweite Gefahr ist, daß allzu schillernde Einzelstücke das Leben dominieren und zu viel Platz einnehmen. Bei Männern mag dies häufiger sein als bei Frauen - ich denke da an die libidinöse Beziehung vieler Männer zu ihrem chromblitzenden Auto. Die dritte Gefahr rührt daher, daß sich jedes Patchwork aus unterschiedlichen Dingen zusammensetzt. Das hat zur Folge, daß wir die Patchwork-Identität der anderen Menschen nicht verstehen oder nicht ertragen können. Annettes Bilder und auch ihr Leben mit Volker, ihrer WG und ihren Freunden, zeigen, daß der Patchwork-Lebensstil glücken kann. Das Leben wird bunt und reich und ist dabei keineswegs oberflächlich. Noch einmal wiederholen möchte ich, daß mich Annettes Tücher auch an naive Malerei erinnern. Annettes Werke sind in dem Sinn naiv, daß sie die kleinen schönen Tiere, Dinge und Ereignisse ihres Alltagslebens und ihrer Fantasie in naivem Stil auf das Tuch bannt. Sowohl mit ihren Bildern, als auch mit ihrem Leben ermutigt uns die Künstlerin, unsere individuelle Patchwork-Identität zu entdecken und auszuleben. Anette zeigt uns auch, was dazu nötig ist: Achtsamkeit auf die Details des Alltags und viel Fantasie Ich schließe mit einem Dank an Anette, dafür, daß sie uns mit ihren Tüchern an ihrer Fantasie teilhaben läßt und mit einem Wort des Respekts, daß sie sich getraut hat, damit in die Öffentlichkeit zu gehen. Uns allen wünsche ich viel Freude beim Genuß der Bilder und viel Erfolg beim Entdecken der Details auf den Tüchern - und der Details in unserem Leben.